Eule
Städt. St.-Anna-Gymnasium

Schülerzeitung »mesSAGe« goes digital — Artikel

Covid 19 — die Menschheit zwischen Apokalypse und unverdienter Arroganz

Betritt man Anfang 2020 die andernfalls überlaufenen Großstadtgassen, so wird man global im Kontext der neuartigen Tröpfcheninfektion Corona von dem Eindruck beschlichen, Opfer eines apokalyptischen Killer-Virus zu sein. Fast 200.000 Menschen haben sich seit Ausbruch Ende 2019 mit der Krankheit infiziert. Von ihnen weilen 7.330 leider nicht mehr unter uns, wenn Sie dies lesen, sind es bereits mehr.

Und tatsächlich lebt es sich — sofern die Dezimierung der betagteren Bevölkerung nicht zu den persönlichen Prioritäten zählt — nicht mehr so wirklich. Doch gehört der Corona-Virus einer neuen Infektionskategorie homo-sapiens-phober Erreger an? Denn interessanterweise hört man Kühe, Katzen oder Kamele weltweit weder den Notstand ausrufen beziehungsweise fauchen, noch ist ein Massensterben aufgrund des Virus in der Tierwelt zu beobachten.

Auch in Deutschland sind es nicht Millionen von Toten, die das öffentliche Leben lahmlegen. Vielmehr wird lediglich versucht die Übertragung einzudämmen, was zunächst eher harmlos erscheinen mag.

Doch jedermanns Leben, unabhängig von Standort, sozialer Schicht oder Alter, steht Kopf: Millionen von Schüler*innen sehen sich mit einer Herausforderung nie dagewesener Misslichkeit konfrontiert. Die Unterrichtsinhalte sollen sich über einen Zeitraum, der dem der Sommerferien nahekommt, mithilfe digitaler Vorlagen der Lehrkräfte selbst angeeignet werden. Ein 6-jähriger Sohn einer alleinerziehenden Krankenschwester, der im Vorjahr noch den Kindergarten besuchte, sitzt im Worst-Case-Szenario also etwa acht Stunden täglich alleine Zuhause und soll sich das Schreiben beibringen, wo er doch vermutlich noch nicht einmal einwandfrei lesen kann.

Auch das Zeitmanagement verändert sich zu Virus-Zeiten dramatisch: Will man eine Packung Toilettenpapier erwerben, nimmt das leicht zwei Stunden und acht Ladenbesuche in Anspruch. Ist der eigene Arbeitsplatz von den unzähligen Betriebsschließungen noch nicht betroffen, wird auch jeder Klimaschutzabsicht bei der Fortbewegung mit den ÖPNV durch die Ratschläge Spahns und Co. ein jähes Ende gesetzt und ein Auto muss für Pendler her.

Aus wilden Partynächten wird angesichts des tagelangen Verweilens im häuslichen Refugium nächtliche Klaustrophobie.

Doch die Maßnahmen der Ministerien sind nicht nur legitim, sondern tatsächlich notwendig. Und dennoch erscheint der »global shutdown« gegenüber seiner Ursache, einem etwa 120nm messenden Partikel, der laut dem Virologen Christian Drosten, angesichts der vielen nicht erfassten Erkrankungen, eine Sterblichkeitsrate von nur 0,3–0,7% aufweisen könnte, etwas absurd.

Wenn also die Drastik der aktuellen Lebenssituation nicht dem Problem an sich anzulasten ist, wem oder was dann?

Betrachtet man die betroffene Spezies, also uns, so fällt rasch eines auf: Obwohl der Großteil der Menschheit kerngesund ist, ist die Welt, wie wir sie kennen, völlig aus den Fugen geraten. Somit muss eine immense Abhängigkeit von unnatürlichen, also menschgemachten Faktoren bestehen. Diese erscheinen uns in unserer menschlichen Hybris jedoch schier unerschütterlich und naturgegeben.

Wie leicht die Vorzüge der durch Globalisierung zunehmend urbanen Lebenswelt einbrechen, zeigt unsere Ratlosigkeit, wenn Entertainment-Möglichkeiten wie Kinos, Fitnessstudios, Restaurants oder Bars schließen, wenn der zweiwöchige Florida-Urlaub aus gegebenem Grund abgesagt wird, wenn der wöchentliche Bummel in der Stadt plötzlich ausfallen muss, und so weiter.

Sind wir alleine und lediglich mit uns selbst, einigen Verwandten, dem Internet und Büchern konfrontiert, zeigen sich bereits nach wenigen Tagen die Symptome eines Entzugs. Lange-weile. Angst. Hysterie. In Kombination auch teils unter Morbus Hamsterkauf bekannt.

Bei dieser ernstzunehmenden Erkrankung der menschlichen Ratio erscheint es Betroffenen plötzlich sinnvoller, sich wiederholt der Virus-Schleuder Supermarkt auszusetzen, um dem Hungertod beziehungsweise einer Inhaftierung in der Toilette aufgrund von Papiermangel zu entkommen, als einer potenziell tödlichen Infektion durch zeitweilige Isolierung zu entgehen.

Dabei liegt doch eine unglaubliche Arroganz in der Annahme, dass sämtliche anthropogene Erfindungen die Ordnung einer Welt, die wir mit 8,7 Millionen weiteren Arten teilen, bestimmen.

Zwar schafft der Mensch in Sachen Quantität, Größe und Ausmaß Dinge, die den Rest allen bekannten Lebens in den Schatten stellen. Doch so komplex und reizvoll all das auch sein mag, es ist zugleich ebenso verletzlich und angreifbar.

Umso betrübender erscheint vor diesem Hintergrund unser niemals enden wollendes Konsumbedürfnis. So furchtbar muss ein Leben mit sich selbst und der Familie ohne die gewohnten Annehmlichkeiten des öffentlichen Lebens sein, dass wir eine ausschließliche Konfrontation mit ihnen als absoluten und vor allem unangenehmen Ausnahmezustand erleben.

Mit den Möglichkeiten des modernen Entertainmentsystems können wir den Drang zur Reflexion, zur Diskussion oder zur Ruhe betäuben. Denn ist unser Gehirn unaufhörlich mit der Verarbeitung immer einnehmenderer Außenreize wie einer 4D-Filmvorführung, einer Achterbahnfahrt oder zehn Unterrichtsstunden beschäftigt, so stellen wir immer weniger Fragen. Es bleibt kaum Zeit für die Betrachtung eines Erlebnisses aus einem anderen Blickwinkel, denn da wartet — oh Wunder — ja bereits das nächste. Sehr angenehm.

Wurde unser Leben also wirklich lahmgelegt oder hat einfach gerade ein Wecker geklingelt, um uns zu weniger Hybris und mehr Reflexion zu ermahnen?

Soviel steht fest: Wer täglich fröhlich, pfeifend und ahnungslos ein Kartenhaus durchschreitet, ja dieses sogar bewohnt, sollte dessen Einbruch gewachsen sein.

Beruhigend ist immerhin, dass der Online-Konsum den Realen noch nicht ablösen kann, wir also nicht nur von den Unterhaltungsmöglichkeiten unserer artifiziellen Welt abhängig sind, sondern ebenso von dieser Welt an sich.

Stella Schulte-Frohlinde